[Bettina Ruggeri]
Wie Bettina als Scrum Master und Agile Coach ihre Arbeit im Unternehmen gestaltet, welche Techniken sie einsetzt und wie ihre Teams darauf reagieren, möchten wir gerne erfahren. Also treffen wir sie zum Interview. Hier erfährst du mehr.
Bettina Ruggeri: In der Tat, das Berufsbild „Coach“ ist noch ein ungeschützter Titel im Arbeitsumfeld. Gerade auch im agilen Bereich wird der Begriff „agile Coach“ immer beliebter und soll eine umfassendere Erfahrung im agilen Umfeld darstellen. Leider haben die wenigsten Kollegen eine fundierte Ausbildung genossen, die in der Regel mindestens 200 Stunden umfasst. In dieser Ausbildung werden Methoden und die Haltung zum Berufsbild „Coach“ gelehrt und dies erfordert aus meiner Sicht viel Selbstreflexion.
Bettina Ruggeri: Mein persönliches Interesse am Coaching liegt vor allem in der Verbindung zum Gedanken der Selbstorganisation im agilen Umfeld. Coaching sollte immer ergebnisoffen sein und den Coachee mit Hilfe von geeigneten Fragen und Methoden befähigen, seine eigene Lösung zu finden. Perspektivenwechsel und Realitätscheck helfen oft dabei, die aktuelle Situation zu reflektieren, um neue Wege und Handlungsoptionen zu erkennen und zu erproben.
Und hier liegt, aus meiner Sicht, auch der Unterschied in den Sichtweisen zum Begriff „Coaching“. Im agilen Umfeld wird der Begriff als Anglizismus zum „Trainer“ verwendet. Als Trainer habe ich den Auftrag, den Klienten gezielt zu einem Thema zu trainieren, ein ganz klares Ziel zu erreichen. Als Coach im „klassischen“ Sinn ist es meine Aufgabe, eine Art „Hilfe zur Selbsthilfe“ anzubieten. Dabei definiert der Klient seine Ziele selbst.
Bettina Ruggeri: Meine Arbeit bei genua ist davon geprägt, die Teams in ihrer Selbstorganisation zu unterstützen. Für das Finden neuer Möglichkeiten, sich zu verbessern, ist das Stellen von – manchmal unbequemen – Fragen sehr hilfreich. Selbstorganisation ist oft ein anstrengender Weg. Manchmal ist es bequemer, sich einer anderen Meinung anzuschließen. Veränderung ist für die meisten Menschen anstrengend und löst oftmals Unsicherheit aus. Gerade in Teams, in denen viele verschiedene Sichtweisen aufeinander treffen ist es eine Herausforderung, Wege zu finden, bei denen alle mitgehen können und möchten. Deshalb ist es besonders wichtig, neue Ideen zu finden, damit wir auch Abstand zu unseren Lieblingsstrategien nehmen können.
Lösungen, die gemeinsam vom Team gefunden werden, sind in der Regel sinnvoller und nachhaltiger. Sie fördern Motivation, Zufriedenheit und dadurch auch die Leistungsbereitschaft.
Bettina Ruggeri: Das Stellen von Fragen ist eine zentrale „Technik“ für Veränderung. Fragen können bewirken, dass wir unseren „Status Quo“ beleuchten und reflektieren, ob unsere gewohnte Sichtweise aktuell noch hilfreich und der Situation dienlich ist. Gepaart mit der GFK wird es für die Team-Mitglieder leichter, diesen Schritt zur Reflexion zu tun. Sie unterstützt das Verständnis für die Interessen, die es zu erfüllen gibt.
Veränderung bedeutet für viele Menschen noch immer, dass das aktuelle Tun nicht „gut genug“ ist. Für Veränderung braucht es gleichzeitig viel Wertschätzung für das Bestehende. Darüber hinaus gibt es viele weitere Methoden, die diesen Prozess unterstützen. Wirksame Modelle sind z. B. die Transaktionsanalyse, die themenzentrierte Interaktion, systemische Ansätze und lösungsfokusiertes Arbeiten.
Bettina Ruggeri: Scrum und Kanban sind Methoden, die bei uns vor allem im IT-Umfeld bekannt wurden. Ursprünglich wurden diese Ansätze von Toyota erprobt und mit Lean-Ideen der Automobil-Industrie verknüpft. Scrum hat sich vor allem im Entwicklungsbereich durchgesetzt. Hier passt es aus meiner Sicht am besten, weil Kreativität einen geschützten Rahmen braucht. Nicht immer ist die schnellste Lösung auch die Beste. In operativen Bereichen, wie z. B. der Systemadministration oder auch im Vertrieb, kann Kanban eine hilfreiche Methodik sein. Hier kommt es auf Transparenz und das Beseitigen von Engpässen an, um einen gleichmäßigen Durchsatz zu erreichen. Vorteile dieser Methoden sind Transparenz, das frühzeitige Erkennen der Probleme und der Fortschritte. Hier wird nicht ins Blaue geplant, sondern auf tatsächlicher Leistung. Auf Veränderung kann zeitnah und flexibel reagiert werden.
Bettina Ruggeri: Inzwischen verwischen die Grenzen der Methodiken zunehmend; es gibt auch schon Mischformen wie Scrumban. Hier hat sich gezeigt, dass nicht die Methodik das Ziel ist, sondern die Optimierung der Arbeitsabläufe und Ergebnisse.
Nichtsdestotrotz ist es gerade am Anfang noch sehr wichtig, die Methoden klar und konsequent einzusetzen. Die Idee, die Methode auf die Gegebenheiten hin anzupassen ist gerade bei Anfängern eine beliebte Vorgehensweise, um sich den evtl. unbequemen Veränderungen erst einmal nicht stellen zu müssen. Dabei bleiben oftmals die Kraft und der Erfolg der Methodik auf der Strecke. Hier hilft der Vergleich zum Autofahren: Ein Anfänger sollte die Kurven noch ruhig und bewusst ausfahren und nicht gleich mit dem Schneiden der Kurven beginnen, wenn er sicher am Ziel ankommen möchte.
Bettina Ruggeri: Es ist immer wieder wichtig, die Auswirkungen der Aktivitäten zu hinterfragen und über die Sinnhaftigkeit zu reflektieren. Gleichzeitig ist gerade die aus meiner Sicht größte Kraft dieser Methoden zu Beginn sehr problematisch: die Transparenz. Sie kann als Kontrolle wahrgenommen werden. Der Coach sollte darauf achten, dass sich die Stand-Ups nicht zu einem Status-Meeting à la „ich habe gearbeitet“ entwickeln. Wichtig ist es, eine nachhaltige Fehlerkultur zu entwickeln. Es ist ein besonderer Vorteil, Probleme frühzeitig zu erkennen, um angemessen darauf reagieren zu können.
Bettina Ruggeri: Der größte Unterschied zu anderen IT-Unternehmen liegt wohl in der Hardware-nahen Software-Entwicklung und in der Denkweise von Sicherheitsexperten. Gerade das „Aufspüren von Lücken“ stellt mich immer wieder vor die Herausforderung, Interventionen so zu präsentieren, dass sich die Entwickler darauf einlassen können, ohne sie zuvor bis in die Bestandteile zu zerlegen. Die Zusammensetzung der Teams ist hier oftmals sehr heterogen. Dies zeigt sich dann in sehr unterschiedlichen Vorlieben und Sichtweisen, was eine gemeinsame Entscheidungsfindung manchmal erschwert. Für einen Coach bedeutet das Geduld haben und Dranbleiben.
Bettina Ruggeri: Die Wirkung von Interventionen ist von Team zu Team zum Teil sehr unterschiedlich. Ebenso sind der Zeitpunkt und natürlich auch der Einsatzgrund wichtig. Ähnlich wie Paul Watzlawick könnte man sagen: „Man kann nicht nicht intervenieren“. Selbst ein „Unterlassen“ ist eine Intervention. Im Grunde kann man nie wirklich vorhersehen, wie und ob eine Intervention ankommt. Je mehr Erfahrungen ich sammle, desto größer wird die Chance, die Auswirkungen ggf. erahnen zu können. Herausfinden kann man das erst hinterher. Ich selbst bin immer wieder erstaunt darüber, dass eine Intervention bei einem Team Begeisterung und bei einem anderen Widerstand auslösen kann.
Persönlich mag ich Ansätze aus der Gamification, d. h. spielerische Elemente für das Lernen und Weiterentwickeln verwenden. Hier erlebe ich einen „ganzheitlichen“ Ansatz im Umgang mit Veränderung und Reflexion. Bei meinen Teams lösen gerade diese teilweise den größten Widerstand aus. Manchmal ist es noch schwierig für mich, die Sinnhaftigkeit solcher Aktivitäten zu vermitteln. Wenn die Beziehung zum Team vertrauensvoller wird, gelingt es immer wieder, auch mal etwas Neues auszuprobieren.
Bettina Ruggeri: Grundsätzlich ist das ein sehr weites Feld. Ich möchte mich gar nicht gern auf etwas „Konkretes“ einschränken. Was mir immer wieder begegnet und mich sehr interessiert ist das Mindset, das unterstützend oder hinderlich auf unsere Arbeit und unser Leben wirken kann. Agiles Mindset bedeutet, dass wir an die Möglichkeit zu Lernen glauben. Wir dürfen Fehler machen und können uns durch Reflexion weiterentwickeln. Es bedeutet auch zu verstehen, dass wir immer das Beste tun, was wir mit dem aktuellen Wissen, unseren Fähigkeiten und verfügbaren Mitteln tun können.
Bettina Ruggeri: Meine nächste Weiterbildung beschäftigt sich mit systemischer Organisationsentwicklung und Change Management. Das Verstehen der systemischen Zusammenhänge und der unterschiedlichen Bedürfnisse innerhalb einer Organisation sind, aus meiner Sicht, sehr hilfreich um Veränderung im Unternehmen zu begleiten. Gerade die Interessen von Abteilungen, Management und oft heterogenen Teams können sehr unterschiedlich sein und sich manchmal scheinbar sogar widersprechen. Hier lassen sich im Alltag alle Herausforderungen, die durch Veränderung entstehen, erleben. Veränderungen geschehen ständig im Kleinen wie im Großen. Das ist vielleicht die einzige wirkliche Gewissheit.
Und ich möchte dazu beitragen, die Veränderungen hilfreich, wirksam und feinfühlig mitzugestalten. Dies bedeutet für mich eine wichtige Basis für den nachhaltigen Erfolg einer Organisation.
Scrum Master bei genua (2015)
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